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„Die Sieben Todsünden der Kleinbürger“ ist die letzte gemeinsame Arbeit von Bertolt Brecht und Kurt Weill. Entstanden nach dem Machtantritt Adolf Hitlers in Deutschland im Frühjahr 1933 und in Paris uraufgeführt. Jetzt soll sie gezeigt werden als Volkstheater unter Mitwirkung des Publikums auf dem Domplatz in Salzburg, wo jedes Jahr der „Jedermann“ gespielt wird, und einer anderen Bühne bedarf es auch nicht. Vor dem Dom hängt über die ganze Höhe eine halbtransparente Gaze, auf der die 7 Todsünden verzeichnet sind. Dies soll auch außerhalb der Aufführungen dort hängen. Die Musik und der Gesang können von einer CD kommen. Der Text soll links und rechts projiziert werden.
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PROLOG
Der Vater, die Mutter und die beiden Brüder von Anna kommen von rechts mit einem übermannsgroßen schweren Kreuz auf den Domplatz. Anna kann eine weiße Latzhose mit seitlichen Taschen tragen. Die Familie schleppt das Kreuz auf die rechte Seite des Bühnenpodests und bittet Anna, die ihnen gefolgt ist, herauf. Dann geht die Familie die rechte Treppe hinauf und postiert sich hinter der Balustrade, von wo aus sie das weitere Geschehen verfolgt. ANNA I Meine Schwester und ich stammen aus Louisiana, wo die Wasser des Mississippi unterm Monde fließen, wie Sie aus den Liedern erfahren können. Dorthin wollen wir zurückkehren, lieber heute als morgen. ANNA II Lieber heute als morgen! ANNA I Wir sind aufgebrochen vor vier Wochen nach den großen Städten, unser Glück zu versuchen. In sieben Jahren haben wir’s geschafft, dann kehren wir zurück. ANNA II Aber lieber schon in sechs! ANNA I Denn auf uns warten unsre Eltern und zwei Brüder in Louisiana, ihnen schicken wir das Geld, das wir verdienen, und von dem Gelde soll gebaut werden ein kleines Haus, ein kleines Haus am Mississippi in Louisiana. Nicht wahr, Anna? ANNA II Ja, Anna. ANNA I Meine Schwester ist schön, ich bin praktisch. Sie ist etwas verrückt, ich bin bei Verstand. Wir sind eigentlich nicht zwei Personen, sondern nur eine einzige. Wir heißen beide Anna, wir haben eine Vergangenheit und eine Zukunft, ein Herz und ein Sparkassenbuch, und jede tut nur, was für die andre gut ist. Nicht wahr, Anna? ANNA II Ja, Anna.
Anna versucht das Kreuz zu schultern und es zu schleppen, so wie Jesus Christus sein Kreuz geschleppt haben soll.
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Die Bühne für den Jedermann ... und die 7 Todsünden.
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1) FAULHEIT
Anna gelingt nur, das Kreuz einige Dezimeter zu bewegen. Sie läßt es stehen, holt eine Zigarettenschachtel aus ihrer Hosentasche und zieht eine Zigarette heraus. Dann geht sie zur vorderen Bühnenkante und dort in die Hocke. Jemand im Publikum steht auf und gibt ihr Feuer. Anna legt sich auf den langen Balken des Kreuzes und raucht ... FAMILIE Hoffentlich nimmt sich unsre Anna auch zusammen. – Müßiggang ist aller Laster Anfang – sie war ja immer etwas eigen und bequem, – Müßiggang ist aller Laster Anfang – und wenn man die nicht aus dem Bett herauswarf, – Müßiggang ist aller Laster Anfang – dann stand das faule Stück nicht auf am Morgen. – Müßiggang ist aller Laster Anfang – Andrerseits ist ja unsre Anna ein sehr aufmerksames Kind, – Müßiggang ist aller Laster Anfang – sie war immer folgsam und den Eltern treu ergeben, – Müßiggang ist aller Laster Anfang – und so wird sie es, wir wollen hoffen, – Müßiggang ist aller Laster Anfang – nicht am nöt'gen Fleiße fehlen lassen in der Fremde. – Müßiggang ist aller Laster Anfang – Der Herr erleuchte unsre Kinder, daß sie den Weg erkennen, der zum Wohlstand führt. Er gebe ihnen die Kraft und die Freudigkeit, daß sie nicht sündigen gegen die Gesetze, die da reich und glücklich machen!
Anna macht ihre Zigarette aus und begibt sich wieder unter das Kreuz.
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2) STOLZ
Anna kann zunächst ein Bein auf den Längsbalken des Kreuzes gestellt haben und das Publikum anschauen. Dann dreht sie das Kreuz um neunzig Grad, so daß das kurze Ende des Längsbalkens auf das Publikum gerichtet ist. Sie setzt sich hinter den Querbalken, beugt den Oberkörper etwas zur Seite und streift den vom Querbalken verdeckten Träger der Hose etwas herunter und wieder herauf. Dann beugt sie den Oberkörper zu anderen Seite und hantiert mit dem anderen Träger …Nachdem das Publikum damit nicht zufrieden ist, steht sie auf, geht zur Rampe und deutet, soweit es gestattet ist, die Pose von E. Munchs ‚Madonna’ an, indem sie die Träger der Latzhose abstreift, diese aber mit der Hand im Rücken am Herabgleiten hindert.
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Anna zieht die Hose hoch, geht zurück zum Kreuz, dreht wieder so wie am Anfang und begibt sich darunter.
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ANNA I
Als wir aber ausgestattet waren, Wäsche hatten, Kleider und Hüte, fanden wir auch bald eine Stelle in einem Kabarett als Tänzerin, und zwar in Memphis, der zweiten Stadt unsrer Reise. Ach, es war nicht leicht für Anna. Kleider und Hüte machen ein Mädchen hoffärtig. Wenn die Tiger trinkend sich im Wasser erblicken, werden sie oft gefährlich! Also wollte sie eine Künstlerin sein und wollte Kunst machen in dem Kabarett, in Memphis, der zweiten Stadt unsrer Reise. Und das war nicht, was dort die Leute wollen, was dort die Leute wollen, war das nicht. Denn diese Leute zahlen und wollen, daß man etwas herzeigt für ihr Geld. Und wenn da eine ihre Blöße versteckt wie 'nen faulen Fisch, kann sie auf keinen Beifall rechnen. Also sagte ich meiner Schwester Anna: Stolz ist nur etwas für reiche Leute! Tu was man von dir verlangt und nicht was du willst, daß sie von dir verlangen!
ANNA I
Manchen Abend hatt' ich meine Mühe, ihr den Hochmut abzugewöhnen. Manchmal brachte ich sie zu Bette, tröstete sie und sagte ihr: Denk an das kleine Haus in Louisiana!
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FAMILIE Das geht nicht vorwärts! Was die da schicken, das sind keine Summen, mit denen man ein Haus baut! Die verfressen alles selber! Denen muß man mal den Kopf waschen, sonst geht das nicht vorwärts! Denn was die da schicken, das sind keine Summen, mit denen man ein Haus baut! Die verfressen alles selber! Denen muß man mal den Kopf waschen! Denn was die dummen Tiere schicken, das sind doch wirklich keine Summen, mit denen man ein kleines Haus baut!
ANNA I
Jetzt geht es vorwärts! Wir sind schon in Los Angeles! Und den Statisten stehen alle Türen offen. Wenn wir uns jetzt zusammennehmen und jeden Fehltritt vermeiden, dann geht es unaufhaltsam weiter nach oben.
FAMILIE
Der Herr erleuchte unsre Kinder, daß sie den Weg erkennen, der zum Wohlstand führt!
ANNA I Wer dem Unrecht in den Arm fällt, den will man nirgends haben, und wer über die Roheit in Zorn gerät, der lasse sich gleich begraben. Wer keine Gemeinheit duldet, wie soll der geduldet werden? Wer da nichts verschuldet, der sühnt auf Erden. Und so hab' ich meiner Schwester den Zorn abgewöhnt in Los Angeles, der dritten Stadt der Reise, und die offene Mißbilligung des Unrechts, die so sehr geahndet wird. Immer sagte ich ihr: Halte dich zurück, Anna, denn du weißt, wohin die Unbeherrschtheit führt. Und sie gab mir recht und sagte:
ANNA II
Ich weiß es, Anna.
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4) VÖLLEREI
Anna bekommt das Kreuz tatsächlich ein gutes Stück vom Fleck. Aber es strengt sie sehr an. Vielleicht hält sie sich mit einer Hand den Bauch. Im Publikum essen inzwischen einige etwas. Einer scheint Mitleid zu haben, steht auf und hält Anna etwas zum Essen hin. Anna nimmt es und ißt ...
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Anna wird wieder etwas zu Essen angeboten. Sie aber winkt aber ab und geht wieder unter das Kreuz.
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5) UNZUCHT
Anna hat das Kreuz jetzt bis über die Mitte der Bühne geschleppt. Sie legt eine Pause ein, wendet dem Publikum den Rücken zu und verharrt in dieser Position. Im Publikum kommt Unruhe auf. „Was ist los?“ Anna reagiert nicht. „Warum geht es nicht weiter?“ Anna, immer noch mit dem Rücken zum Publikum, streift erst den einen, dann den anderen Träger ihrer Hose herunter.
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Die Rufe werden noch lauter. Anna läßt die Hose heruntergleiten und streckt dem Publikum ihren Hintern entgegen. Einige im Publikum machen ihrem Unmut über die zurückhaltende Inszenierung lautstark Luft: „Umdrehen!“. „Wir wollen alles sehen!“ Ein anderer protestiert: „Der Domplatz ist kein Babylon!“ Er wird gefragt: „Woher kennen Sie das Babylon?“ Schweigen. Niemand ruft mehr. Anna zieht ihre Hose hoch und begibt sich wieder unter das Kreuz.
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6) HABSUCHT
Anna schleppt das Kreuz. Im hinteren Teil des Publikums fallen zwei Schüsse. Über eine der rückwärtigen Treppen der Zuschauertribüne kommen Sanitäter und holen die Leichen ab.
Anna strauchelt, fällt hin und bleibt zunächst am Boden liegen.
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Anna steht wieder auf und schleppt das Kreuz weiter.
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7) NEID
Anna ist jetzt mit dem Kreuz auf der linken Seite des Bühnenpodests angekommen. Sie bricht erschöpft unter ihm zusammen und bleibt bewegungslos am Boden liegen.
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Im Publikum haben einige ihre Jacken abgelegt und sind aufgestanden. Sie tragen braune Hemden, einer mit Hakenkreuz-Binde, und strecken nacheinander den rechten Arm aus. Bis zum Ende des Folgenden haben sie sich nach und nach wieder hingesetzt ...
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FAMILIE
Da ist ein Brief aus Philadelphia: Anna geht es gut. Sie verdient jetzt endlich. Sie hat einen Kontrakt als Solotänzerin; danach darf sie nicht mehr essen, was sie will und wann sie will. Das wird schwer sein für unsre Anna, denn sie ist doch so sehr verfressen. Ach, wenn sie sich da nur an den Kontrakt hält, denn die wollen kein Nilpferd in Philadelphia. Sie wird jeden Tage gewogen. Wehe, wenn sie ein Gramm zunimmt! Denn die stehen auf dem Standpunkt: 52 Kilo haben wir erworben, 52 Kilo ist sie wert. Wehe, wenn sie ein Gramm zunimmt! Und was mehr ist, ist vom Übel.
Aber Anna ist ja sehr verständig, sie wird sorgen, daß Kontrakt - Kontrakt ist. Sie wird sagen: Essen kannst du schließlich in Louisiana, Anna. Hörnchen! Schnitzel! Spargel! Hühnchen! Und die kleinen gelben Honigkuchen! Denk an unser Haus in Louisiana! Sieh, es wächst schon, Stock- um Stockwerk wächst es! Darum halte an dich: Freßsucht ist von Übel. Halte an dich, Anna! Denn die Freßsucht ist von Übel.
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ANNA I
Und wir fanden einen Mann in Boston, der bezahlte gut, und zwar aus Liebe. Und ich hatte meine Not mit Anna, denn auch sie liebte, aber einen andern, und den bezahlte sie, und auch aus Liebe. Ach, ich sagte ihr oft: Ohne Treue bist du höchstens die Hälfte wert. Man bezahlt doch nicht immer aufs neue, sondern nur für das, was man verehrt! Das kann höchstens eine machen, die auf niemand angewiesen ist. Eine andre hat nichts zu lachen, wenn sie einmal ihre Situation vergißt. Ich sagte ihr: Setz dich nicht zwischen zwei Stühle! Und dann besuchte ich ihn und sagte ihm: Solche Gefühle sind für meine Schwester Anna der Ruin. Das kann höchstens eine machen, die auf niemand angewiesen ist. Eine andre hat nichts zu lachen, wenn sie einmal ihre Situation vergißt. Leider traf ich Fernando noch öfter. Es war gar nichts zwischen uns. (Lächerlich!) Aber Anna sah uns, und leider stürzte sie sich gleich auf mich.
FAMILIE
Der Herr erleuchte unsre Kinder, daß sie den Weg erkennen, der zum Wohlstand führt, daß sie nicht sündigen gegen die Gesetze, die da reich und glücklich machen!
ANNA I
Und sie zeigt ihren kleinen weißen Hintern, mehr wert als eine kleine Fabrik, zeigt ihn gratis den Gaffern und Straßenkindern, der Welt profanem Blick. Das gibt immer solche Sachen, wenn man sich ein einz'ges Mal vergißt. Das kann höchstens mal eine machen, die auf keinen Menschen angewiesen ist.
FAMILIE
Wer über sich selber den Sieg erringt, erringt auch den Lohn. ANNA I
Ach, war das schwierig, alles einzurenken: Abschied zu nehmen von Fernando und sich bei Edward zu entschuldigen. Und die langen Nächte, wo ich meine Schwester weinen hörte und sagen:
ANNA II
Es ist richtig so, Anna, aber so schwer!
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FAMILIE
Wie hier in der Zeitung steht, ist Anna schon in Baltimore, und um sie schießen sich allerhand Leute tot. Da wird sie viel Geld verdienen, wenn so was in der Zeitung steht! Das ist gut, das macht einen Namen und hilft einem Mädchen vorwärts! Wenn sie da nur nicht zu gierig ist, sonst macht man sich nichts mehr aus ihr; sonst macht man bald einen großen Bogen um sie. Wer seine Habsucht zeigt, um den wird ein Bogen gemacht. Mit Fingern zeigt man auf ihn, dessen Geiz ohne Maßen ist. Wenn die eine Hand nimmt, muß die andere geben. Nehmen für Geben, so muß es heißen. Pfund für Pfund, so heißt das Gesetz! Darum hoffen wir, daß unsere Anna auch so vernünftig ist und den Leuten nicht ihr letztes Hemd wegnimmt und ihr letztes Geld. Nackte Habsucht gilt nicht als Empfehlung.
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ANNA I
Und die letzte Stadt der Reise war San Francisco. Alles ging gut; aber Anna war oft müde und beneidete jeden, der seine Tage zubringen durfte in Trägheit nicht zu kaufen und stolz, in Zorn geratend über jede Roheit, hingegeben seinen Trieben, ein Glücklicher! Liebend nur den Geliebten und offen nehmend, was immer er braucht! Und ich sagte meiner armen Schwester, als sie neidisch auf die andern sah: Schwester, wir alle sind frei geboren, und wie es uns gefällt, können wir gehen im Licht. Also gehen aufrecht im Triumphe die Toren, aber wohin sie gehn, das wissen sie nicht. Schwester, folg mir und verzicht auf die Freuden nach denen es dich wie die andern verlangt. Ach, überlaß sie den törichten Leuten, denen es nicht vor dem Ende bangt! Iß nicht und trink nicht und sei nicht träge, die Strafe bedenk, die auf Liebe steht! Bedenk, was geschieht, wenn du tätst, was dir läge! Nütze die Jugend nicht, denn sie vergeht! Schwester, folg mir, du wirst sehen, am Ende gehst im Triumph du aus allem hervor. Sie aber stehen, o schreckliche Wende, zitternd im Nichts vor geschlossenem Tor!
FAMILIE
Wer über sich selber den Sieg erringt, der erringt auch den Lohn.
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