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 Das Experiment
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zum Fahrradkauf

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Im vorliegenden Entwurf einer Internetpräsenz von 2+4 ist (noch) keine Untergliederung der umfangreichen Chronik enthalten. Anhand eines kleinen Auszugs aus der Chronik und dreier “Links” soll aber angedeutet werden, wie sich aus der Chronik direkt in das politisch-theatralische Experiment des “Fahrradkaufs” gelangen läßt. So wie sich umgekehrt aus dem “Fahrradkauf” jeweils unmittelbar zur Quelle, d.h.in das vollständige Originaldokument in der Chronik gelangen lassen soll.)   

89.06.12 - 15.

Besuch GORBAT. in Bonn. Insgesamt 3 Treffen mit KOHL

Quellen:

Kohl S.39-49

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Am Abend des dritten Tages, einem Mittwoch, führen die beiden Staatsmänner im Park des Bundeskanzleramtes, fernab jeglichen Protokolls, das Gespräch, das nach KOHLs Auffassung von entscheidender Bedeutung für die Sache der Deutschen werden sollte: »Wir hatten zusammen mit unseren Frauen im Bungalow zu Abend gegessen. GORBATSCHOW war wie immer ein aufgeschlossener, eloquenter Gesprächspartner voller Charme und Selbstironie. Es war schon nach Mitternacht, als der Generalsekretär und ich beschlossen, noch etwas im Park spazierenzugehen. Nur der Dolmetscher war dabei, als wir hinunter in Richtung Rhein liefen. Dort setzten wir uns auf die Mauer, von der aus man diesen schönen Blick auf den vorbeifließenden Strom und das gegenüberliegende Siebengebirge hat. Unterhalb der kleinen Mauer schlenderten die Spaziergänger vorbei und waren überrascht, dort oben Michail GORBATSCHOW zu sehen. Aufgeschlossen, wie er ist, kam er mit den jungen Leuten auch gleich ins Gespräch, scherzte mit ihnen. Sie überschütteten ihn mit Komplimenten, was er sehr genoß.

Es war die ideale Voraussetzung für ein sehr offenes, freundschaftliches Gespräch. Wir waren einer Meinung, daß wir die deutsch-sowjetischen Beziehungen auf eine neue Basis stellen müßten, wenn sich die Lage in Europa zum Besseren wenden solle. Daraus entwickelte sich der Gedanke, daß man einen Vertrag schließen müsse, in dem die Deutschen und die Sowjetunion zwar keinen Schlußstrich unter die Vergangenheit zögen, aber eine neue Perspektive für die Zukunft entwickelten. Ein solcher Vertrag - wir nannten ihn den >Großen Vertrag< - würde von den Menschen in beiden Staaten gewiß begrüßt werden. Ich fügte allerdings hinzu: >Aus dem Vertrag wird jedoch nichts Richtiges, solange zwischen uns die Teilung Deutschlands steht. Sie ist die entscheidende Belastung zwischen unseren beiden Völkern. Er hat dem widersprochen, und zwar ganz im Sinne der sowjetischen Haltung. Die Teilung sei die logische Folge der geschichtlichen Entwicklung, sagte er.

Ich zeigte auf den Rhein und meinte: >Schauen Sie sich den Fluß an, der an uns vorbeiströmt. Er symbolisiert die Geschichte; sie ist nichts Statisches. Sie können diesen Fluß stauen, technisch ist das möglich. Doch dann wird er über die Ufer treten und sich auf andere Weise den Weg zum Meer bahnen. So ist es auch mit der deutschen Einheit. Sie können ihr Zustandekommen zu verhindern suchen. Dann erleben wir beide sie vielleicht nicht mehr. Aber so sicher wie der Rhein zum Meer fließt, so sicher wird die deutsche Einheit kommen - und auch die europäische Einheit. Die Frage laute nur: >Machen wir es in unserer Generation, oder warten wir weiter - mit all den Problemen, die damit verbunden sind? Und ich bekräftigte noch einmal, daß sich die Deutschen nicht mit der Teilung abfinden würden. Michail GORBATSCHOW hat sich meine Überlegungen angehört und nun nicht mehr widersprochen.«

Von diesem Zeitpunkt an habe bei GORBATSCHOW ein Prozeß des Umdenkens eingesetzt, meint KOHL - nicht zuletzt deshalb, weil sie sich menschlich nähergekommen seien und Vertrauen zueinander gefaßt hätten. Sehr persönlich hätten sie über ihre Herkunft und ihren Lebensweg gesprochen. GORBATSCHOW sei Jahrgang 1932, also nur zwei Jahre jünger als er. Sie beide gehörten der Generation an, die noch die Schrecken des Zweiten Weltkrieges bewußt erlebt habe. »GORBATSCHOW erzählte mir, sein Vater sei Mähdrescher-Fahrer in einer Kolchose gewesen, in einem kleinen Dorf in der Nähe von Stawropol. Schon bei Ausbruch des Krieges sei er zur Roten Armee eingezogen worden und habe vier Jahre im >Großen Vaterländischen Krieg gekämpft, sei schließlich als Minenräumsoldat schwer verwundet worden und wenige Jahre nach Kriegsende an den Folgen dieser Verwundung gestorben. Er selbst, GORBATSCHOW, habe als Kind in seinem Heimatdorf den Einmarsch der Wehrmacht erlebt, unter deutscher Besatzung gelitten und Schlimmes durchgemacht.«

GORBATSCHOW habe ferner erzählt, sein eigener Großvater sei unter Stalin im Lager gewesen. Dies sei der persönliche Hintergrund für sein angekündigtes Vorhaben gewesen, die Verbrechen der Stalin-Zeit offenzulegen. In rund einem Jahr sollten ein entsprechender Bericht und Akten veröffentlicht werden. Es seien schreckliche Wahrheiten, die man nicht unterdrücken könne.

»Auch ich erzählte GORBATSCHOW von meinem Elternhaus, von meiner Mutter, die sehr gläubig war, von meinen beiden Geschwistern und von meinem Vater, einem Finanzbeamten, der dem Nationalsozialismus ablehnend gegenübergestanden hatte. Nach Hitlers Machtübernahme trat er - obwohl er seinem beruflichen Weiterkommen damit sicher geschadet hat aus dem >Stahlhelm< aus, dem deutschnationalen Bund der Frontsoldaten, in dem er sich bis dahin auch als engagierter Zentrurnswähler wohl gefühlt hatte. Mein Vater war als Oberleutnant aus dem Ersten Weltkrieg heimgekehrt. Im Oktober 1938 - zur Zeit des Münchner Abkommens - kam er eines Tages nach Hause und brachte für jeden von uns ein Fahrrad mit - fünf Fahrräder mit einer doppelten Bereifung, Seine Begründung für den außergewöhnlichen Kauf: >Es gibt bald Krieg.<

Ein Jahr später kam der Krieg, und ich stand als kleiner Junge mit meiner Mutter an der alten Ludwigshafener Rheinbrücke und sah die ersten F1üchtlinge des Zweiten Weltkriegs. Es waren Bauern aus dem deutsch-französischen Grenzgebiet, die mit ihrer armseligen Habe vom sogenannten Westwall weg ins Rechtsrheinische evakuiert wurden. Meine Mutter und andere Frauen, die mit uns Kindern am Wegesrand standen, weinten. Es waren wohl diese Tränen, die das für mich als Kind noch Unbegreifliche in meiner Erinnerung wachhielten.

Mein Vater wurde eingezogen, wir erlebten bald die schweren Luftangriffe auf Ludwigshafen, das wegen seiner kriegswichtigen chemischen Industrie bombardiert wurde. Ungezählte Nächte haben wir im Luftschutzbunker verbracht, und jedes Mal, wenn alles vorüber war, standen wir vor der bangen Frage, ob unser Elternhaus noch steht. Wir hatten G1ück, zerstört wurde es nie.

In der Schule, wo ich zum Schülerlöschtrupp herangezogen wurde, hörten wir jetzt öfter von gefallenen Brüdern und Vätern. Im Herbst 1944 erreichte uns dann die furchtbare Nachricht, daß mein älterer Bruder Walter gefallen war. Kurz vor der alliierten Landung in der Normandie war er verwundet worden und ein letztes Mal nach Hause gekommen. Walter mußte zurück an die Front. Wenige Wochen später fiel er.

Ich selbst wurde Ende 1944· mit der Kinderlandverschickung evakuiert. An Hitlers letztem Geburtstag - dem 20. April 1945 - wurden wir als Fünfzehnjährige im Berchtesgadener Stadion von Reichsjugendführer Arthur Axmann auf den >Führer< eingeschworen. Als alles vorüber war, machte ich mich mit einigen Jungen aus meiner Heimat auf den weiten Weg zurück nach Ludwigshafen. Nach einer abenteuerlichen Odyssee, mit wochenlangen Fußmärschen, Hunger und vielen Nächten unter freiem Himmel, kam ich schließlich im Spätsommer 1945 heim nach Ludwigshafen, wo ich meine Eltern wiederfand.

Es war GORBATSCHOW anzumerken, daß auch er innerlich bewegt war. Friede war für uns beide nicht nur ein Wort, sondern ein existentielles Grundbedürfnis. Als das Ehepaar GORBATSCHOW schließlich den Bungalow verließ, umarmten wir uns zum Abschied. Für mich war dieser Abend ein Schlüsselerlebnis. Ich denke, für GORBATSCHOW auch.«

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